Nachruf Gustaf de Lattin

SCHMITHÜSEN, J. (1968): Zum Tode von Gustaf de Lattin. - Abh. DELATTINIA 1, 3-5.

Das Jahr 1968 war das Gründungsjahr unserer Arbeitsgemeinschaft, deren bisherige Publikationen weite Beachtung fanden. Es war aber auch das Todesjahr des Mannes, ohne den diese Gründung nicht zustande gekommen wäre. Von den zahlreichen Nachrufen, die sein Tod in der wissenschaftlichen Welt hervorrief, möchten wir an dieser Stelle den seines Freundes und Kollegen, Prof. Dr. Josef Schmithüsen, abdrucken, der wohl wie kein anderer die Bedeutung kannte, die Prof. Dr. G. de Lattin für die Biogeographie besaß. Die Rede wurde am 19. November 1968, im Rahmen einer Trauerfeier im Geographischen Institut der Universität des Saarlandes (Biogeographisches Seminar) gehalten.

 

Biogeographisches Kolloquium vom 19. November 1968

Ansprache von Prof. Dr. J. SCHMITHÜSEN:

Zum Tode von Gustaf de Lattin

Gustaf de Lattin, mit dem ich, wie in den Semestern vorher, das Biogeographische Kolloquium für diese Semester noch gemeinsam angekündigt hatte, ist am 27. August gestorben. Wir gedenken seiner in Trauer und Dankbarkeit.

Gustaf de Lattin war am 9. Juli 1913 in Antwerpen geboren und hatte seine Jugend vom fünften Lebensjahr an bis zum Abitur in Wolfenbüttel verbracht. In Braunschweig und Berlin hatte er Zoologie, Botanik und Genetik studiert. Mit einer Dissertation bei Curt Kosswig „Untersuchungen an Isopodenaugen (unter besonderer Berücksichtigung der blinden Arten)“ war er 1938 promoviert worden. Schon vorher hatte er zwei kleinere entomologische Arbeiten veröffentlicht (1936, 1938). Von 1938 an arbeitete er als Assistent am Erwin-Baur-Institut in Müncheberg/Mark, und seit 1942 leitete er die Abteilung für Genetik im Institut für Rebenzüchtungsforschung. 1950 habilitierte er sich für das Fach Zoologie an der Universität Mainz.

Seit dem Sommersemester 1960 war de Lattin Ordinarius für Zoologie an unserer Universität. Diese verdankt ihm den Aufbau des Zoologischen Institutes. Wieviel persönliche Arbeit er darin investiert hat, vermögen wohl nur wenige zu würdigen.

In dem vielseitigen und umfangreichen Lebenswerk von de Lattin können wir drei Schwerpunkte erkennen: 1. Entomologie, und zwar vor allem Systematik und Genetik der Lepidopteren, 2. Allgemeine Evolutionsforschung und Genetik und 3. Tiergeographie mit besonderer Betonung der genetischen und historischen Kausalforschung.

Sein letztes, erst kurz vor seinem Tode erschienenes Werk „Grundriß der Zoogeographie“ ist nicht nur eine zusammenfassende Übersicht, sondern eine große Gesamtkonzeption, die zu einem wesentlichen Teil auf den Ergebnissen eigener Forschungsarbeit begründet ist. Es steht mir nicht zu, den Verstorbenen als Zoologen und Genetiker nach seinen Leistungen zu würdigen. Aber über de Lattin als Biogeograph und als wissenschaftliche Persönlichkeit darf ich mir erlauben, ein paar Worte zu sagen.

De Lattin war Professor im besten und ursprünglichen Sinne dieses Wortes. Er war Forscher und Lehrer aus Leidenschaft, ideenreich und aufgeschlossen, außerordentlich fleißig, von großer Anregungskraft und dabei von einer geradezu rührenden Bescheidenheit. Wenn er hier in diesem Kolloquium mit seiner sanften Stimme zu uns sprach, wurde vielen Zuhörern sicher nicht bewußt, daß sie von einem der bedeutendsten Forschern der Zoogeographie belehrt wurden. Erst recht ahnte kaum jemand  etwas davon, auf welche unermeßliche Kleinarbeit sich die wissenschaftlichen Auffassungen begründeten, die de Lattin in seiner schlichten Art vortrug. Noch jetzt wissen nur wenige, daß das Zoologische Institut eine Lepidopterensammlung beherbergt, die etwa eine halbe Million Tiere aus allen Teilen der Erde enthält, die de Lattin zum großen Teil mit eigener Hand in langjähriger Nachtarbeit präpariert hat. In ihrem evolutionsgenetisch-zoogeographischen Aufbau ist die Sammlung ein einmaliges Werk, wenigstens in Deutschland.

Das biogeographische Interesse de Lattins hatte sich schon in seinen frühesten Arbeiten über die Evolution der Höhlentiere gezeigt und war dann neben den anderen Forschungsgebieten immer mehr in den Vordergrund getreten. Bei den Zoologenkongressen in Kiel 1948 und in Marburg 1950 sprach er über „Beiträge zur Zoogeographie des Mittelmeergebietes“ und „Über die zoogeographischen Verhältnisse Vorderasiens“. 1953 veröffentlichte er in der Decheniana seine Arbeit „Zur Evolution der westpaläarktischen Lepidopterenfauna“ I und II, und in den Jahren 1957 und 1958 erschienen in den Verhandlungen der Deutschen Zoologischen Gesellschaft die beiden grundlegenden Aufsätze über „Die Ausbreitungszentren der holarktischen Landtierwelt“ und über „Postglaziale Disjunktion und Rassenbildung bei europäischen Lepidopteren“.

Von den zahlreichen übrigen Arbeiten möchte ich hier nur noch den Beitrag hervorheben, den de Lattin für die Darwin-Zentenarschrift „Hundert Jahre Evolutionsforschung“ geschrieben hat mit dem Titel „Darwin als Klassiker der Tiergeographie“. Darin zeigt sich zum erstenmal deutlich seine umfassende Sicht auf das Gesamtgebiet der Tiergeographie, die schließlich in dem „Grundriß der Zoogeographie“ voll zur Geltung kommt. Ich will auf dieses Werk hier nicht im einzelnen eingehen, zumal es sehr vielen von Ihnen bekannt ist.

Ich möchte nur de Lattins „Appell an die Gemeinschaft aller interessierten und verantwortungsbewußten Menschen“ hervorheben, mit dem dieses Buch abschließt. Die Biogeographie, so sagt er darin, hat unter den Wissenschaften „einen einmaligen Sonderstatus mit ausgesprochen negativem Aspekt für ihre weitere Entwicklung“. Denn die zivilisatorische Entwicklung droht in naher Zukunft ihre Grundlagen zu zerstören. Naturschutz kann das nicht verhindern. Er kann bestenfalls kleine Resevate der natürlichen Lebewelt erhalten. Aber die kausale Erforschung der Verbreitungsareale und damit der Evolutionsvorgänge, die daraus zu erfassen sind, wird nicht mehr möglich sein, wenn die natürlichen Areale zerstört sind. Deshalb forderte de Lattin eine möglichst schnelle Bestandsaufnahme in allen bedrohten Gebieten und die Sammlung der Verbreitungstatsachen in Arealkarten, möglichst in einem zentralen Archiv. Er selbst hatte begonnen, für die Zoogeographie ein solches Arealkartenarchiv anzulegen.

Da es in Deutschland bisher keine Stelle gibt, wo die verschiedenen Bereiche der Biogeographie nebeneinander und in unmittelbarem Kontakt miteinander gepflegt werden, hatte de Lattin auch den Anstoß dazu gegeben, daß der Senat unserer Universität auf gemeinsamen Antrag der Naturwissenschaftlichen und der Philosophischen Fakultät beim Wissenschaftsrat die Errichtung des Sonderforschungsbereichs Biogeographie für Saarbrücken beantragt hat.

Nach unserer langen Zusammenarbeit, die auch in unserem Biogeographischen Kolloquium ihren Ausdruck fand, fühle ich mich dem wissenschaftlichen Vermächtnis de Lattins verpflichtet und werde meinerseits alles tun, um in seinem Sinne die weitere Pflege der Biogeographie an unserer Universität zu sichern. So endet mein Nachruf auf den Forscher und Freund Gustaf de Lattin, der der Biogeographie neue Wege eröffnet hat, mit einem Aufruf an die Kollegen in unserer Universität, sich der Verpflichtung des Erbes bewußt zu sein, das ein Mann hinterließ, der ohne Rücksicht auf seine Gesundheit der Universität des Saarlandes bis zum letzten Atemzug gedient hat.

Auch seine Verdienste um die saarländische Heimatforschung müssen hier besonders hervorgehoben werden. Bei dem Kongreß der Deutschen Zoologischen Gesellschaft in Saarbrücken im Jahre 1961 gab de Lattin den Anstoß zu einer intensiveren Bestandsaufnahme der Fauna des Landes. Mit der Gründung der „Arbeitsgemeinschaft für tier- und pflanzengeographische Heimatforschung im Saarland“ sah er sich der Verwirklichung einer „Fauna saraviensis“, der er viel Zeit, Energie und Liebe gewidmet hatte, ein Stück näher gebracht und noch in der Nacht vor seinem Tode las er die Druckfahnen der ersten Publikation der Arbeitsgemeinschaft.